Kurzgeschichten & Gedichte
René Seim, geboren 1981 in Bautzen, lebt und arbeitet in Dresden. Im Juni 2011 erschien die Kurzgeschichte Theater in Der Maulkorb Nr.08, Sonderausgabe Dresden, einer Literaturzeitschrift aus Dresden.
Zweigehaufen
Carla Hagner schlägt ihre Zähne in einen roten Apfel. Ihre Augen senken sich in das Dunkel geschlossener Vorhänge. Als sie sie wieder aufreißt, muss sie ganz schrecklich feixen. Sie nimmt den Apfel und schießt ihn zum Fenster hinaus.
»Los, raus! Raufen!«
Carla zieht einen roten Strickpullover über ihre bloßen Brüste. Dann greift sie nach den gelben Regenstiefeln und läuft durch das Treppenhaus bis vor die Haustür. Dort setzt sie sich auf die Stufen und zieht sich mit zersprungenen Augen die Stiefel über die blanken Füße. Sie atmet kaltfeuchte Winterluft zu ihrer Nase ein. Mit hochgehobenen Mundwinkeln beißt sie sich mehrmals auf die Zähne. Plötzlich steht sie auf und rennt die Straße abwärts in Richtung Stadtteilpark.
Dort hatte sie ihren Michel unter einer herbstlichen Reisigdecke versteckt. Sie rennt in den Park und springt an einer kleinen Bauminsel im hinteren Drittel auf den nun schneeweißen Zweigehaufen hinauf.
»Knack, knack! Mein Micheeel! Ech bin wieder daaa!«
Carla hüpft auf dem Haufen umher. Die Zweige brechen, das Hüpfen wird allmählich dumpfer.
Sie springt zurück auf den Frostboden, von wo aus sie mit starrem Blick den Haufen aufwühlt.
Unter argen Mühen wuchtet sie die freigelegte Schaufensterpuppe an einen Baum. Sie schlägt ihr mit der offenen Hand – einmal quer über das Gesicht. Beschwörerisch tänzelnd geht sie noch drei, vier Meter zurück, um dann plötzlich mit der rechten Schulter vorwärts gegen seinen Bauch zu prellen.
»Ach! Seht nur: Carla ist wieder da!«
Frau Zörl kam mit ihrer Kindergartengruppe auf gute zehn Meter an Carla heran.
»Ach! Sie straft immer noch ihren kleinen Bruder.«
Martin zieht Frau Zörl am schwarzen Wollrock.
»Was hat denn ihr Bruder gemacht?«
Frau Zörl ist verunsichert, sie sucht nach Krähen.
»Seht mal, Kinder. Da hinten fliegen gleich Krähen auf! Lasst uns hinlaufen, wir wollen wissen, wie viele es sind!«
Doch die Kinder sind hartnäckig:
»Nein, Frau Zörl! Sie müssen uns erst sagen, was der Bruder gemacht hat!«
Frau Zörl ist irritiert, sie rennt auf die Krähen zu.
»Krah! Krah! Fliegt auf, ihr Schnepfen!«
Die Kinder zeigen sich gegenseitig den Vogel. Frau Zörl übersieht beim Rennen einen Papierkorb. Sie knallt dagegen und fällt rückwärts in den Schnee. Ihr schwarzes Haar ist nun mit Eiskristallen bestreut. Da beugt sich Carla über den schönen roten Mund von Frau Zörl. Sie gibt ihr einen kleinen Kuss. Frau Zörl erwidert. Langsam drücken sich ihre warmen Münder ineinander. Aus beiden Frauen rinnen Tränen in den Schnee. Der Boden erwärmt sich langsam und gleichmäßig.
Erste Frühlingsblüher strecken ihre Köpfe zur Sonne hin. Die Kinder fassen sich bei den Händen, sie bilden einen Kreis um das liebkosende Paar. Michel löst sich langsam vom Baum, er schüttelt die Schläge und Prellungen von sich. Erwachend vernimmt er warmen Frühlingsduft. Er läuft auf die Kindergruppe zu.
»Carla! Bitte! Verzeih! Ich wollte dein Auto nicht stehlen! Jenny hat mich gebraucht, ich musste doch zu ihr!«
»Du bist wieder gerast! Gegen einen Baum! Du bist tot! Tot, mein stolzer Bruder!«
Carla wuchtet wieder und wieder ihren Kopf von links nach rechts, von rechts nach links.
»Frau Hagner! Frau Hagner!«
Frau Stöcker wischt den Schweiß von Carlas Stirn.
»Nehmen Sie bitte ihre Medizin!«
Milde taumelt meine Seele
Ich harre in Gedanken,
vom lauten Blätterwind betört.
Große Bäume schwanken,
da die Luft dem Sturm gehört.
Bedeckt, die Wegeerde,
schön und farbenwild!
Eine frohe Kinderherde
durchrennt das Bäumebild.
Sie stieben und sie toben,
mit wachen Augen, Kinderblick.
Deren Pädagogen loben
den späten Waldesschick.
Milde taumelt meine Seele,
durch die freie Lungenkur.
Dass mir nicht die Puste fehle,
trieb´s mich in die Herbstnatur!
Schafstall
Gabi stochert verzogenen Mundes mit der Gabel im Geflügelragout:
»Vatiii…!? Ich mag das hier nicht essen…«
Der so angesprochene schaut mitleidig zu seiner Tochter, lupft die rechte buschige Augenbraue in die Höhe und gebietet:
»Schau, Haserl, dann hol‘ dir halt ne Katze. Aber lass Mama nichts davon wissen!«
Gabi rutscht freudig vom Stuhl, stößt die Küchentür auf, rennt durch den beheizten Flur zur Hausausgangstür hinaus und wird draussen auf dem Hof immer langsamer. Ihre Schritte werden bedächtig, so erreicht sie sehr langsam den Schafstall. Im Inneren der Scheune liegen vier Katzenjungen an den Zitzen eines niedergestreckten Schafes. Behutsam nimmt Gabi eines weg, und klatscht es mit einem dumpfen Laut gegen einen Balken.
Ihre Augen funkeln kurz auf. Nun geht sie mit einem kleinen Lächeln zurück in das Haus. Dort verkriecht sie sich für eine kurze Weile in das Badezimmer ihrer Eltern. Denn Mama soll nicht mitbekommen, wie sie der Katze das Fell vom Körper schneidet. Wenig später ist sie wieder in der Küche, wo ihr lieber Vater das Kätzchen in letzter Ruhe in einem mittelgroßen Tiegel gart.
»Ach, Papi! Wären alle Väter so liebherzig, die Welt wäre ein weit friedfertigerer Ort!«
»Ach, Haserl. Du bist lieb. Schau, ich glaub, dass beinah jeder Vater so tät, wie ich eben tat.«
»Ach Vati.«
»Ach Haserl!«
Der Vati umarmt seine Tochter, denn wie es scheint, ist die Welt so friedlich, wie eben nur diese Welt so friedlich, und auch schön, sein kann!
Beider Glück
Junus Berger steht mit kerzgeradem Körper an einer Straßenbahnhaltestelle. Immer wieder schiebt er seinen schmalen mit schwarzen, kurzgeschnitten Haaren bewachsenen Kopf von links nach rechts. Plötzlich sieht er sich in der spiegelnden Schaufensterscheibe eines angesehenen Brillengeschäftes an der gegenüberliegenden Straßenseite. Als er erkennt, was er hier im Morgengrau tut, muss er herzlich lachen. Kopfschüttelnd fragt er sich, ob er denn vielleicht bescheuert ist. Eine neben ihm stehende Dame, die eine wirklich schicke, rote Cordjacke trägt, grinst ihn verzaubert an. Junus zuckt bloß mit den Schultern. Doch dadurch wird er schlagartig ernst und beginnt mit reibenden Händen zu hoffen, dass er auch wirklich einen Sitzplatz erwischt.
Da kommt auch schon die Straßenbahn. Keiner steigt aus, aber mehrere Passanten zwängen sich grimmig hinein. So auch Junus. Er möchte unbedingt sitzen. Denn leider ist er noch ein bisschen müde. Weil er aber auf Arbeit mit Wachsein und Konzentration glänzen möchte, er ist Frisör, will er unbedingt sitzend und mit geschlossenen Augen ruhend zur Arbeit fahren.
In der Bahn sieht er eine kümmerliche, ältere Frau. Sie hat einen nur sehr kleinen, kurzen Körper. Ihre Beine baumeln ohne Bodenkontakt vom Sitz herab. Junus geht auf die Frau zu. Vor ihr stehend greift er sich an seine rechte Gesäßtasche, von wo er sein Portemonnaie hervorholt. Die Frau schaut aus grüngelben Augenlidern gespannt zu Junus hinauf. Der greift nach ein paar trockenen Brotkrumen in seinem Kleingeldfach. Zwischen Daumen und Zeigefinger zerreibt er ein paar kräftige Exemplare vor ihren Augen. Der dunkle Geruch krabbelt in ihre zuckende Nase hinein. Sie zittert am ganzen Körper, vom Schwarzbrotgeruch betört. Die Frau wird sehr nervös. Ihre Beine strampeln. Junus geht einen halben Schritt zurück, da fällt die Frau vom Sitz.
»Ha!«
Junus freut sich. Denn nun ist der Platz frei für ihn. Er streckt der Frau eine Handvoll hin, die dankend die Brotkrumen entgegennimmt. Während nun Junus sitzend seine wunderschönen Augen schließt,
futtert die kleine, schöne Frau glücklich schmatzend die Brotkrumen aus ihrer rechten Hand.
Zerknallt
Ein blonder Junge zertritt das hölzerne Gartentürchen seiner Eltern.
Sein Kopf ist rot, das Herz schlägt ihm durch den Hals.
Zornig bekämpft er seine Tränen!
Seine wilden Augen stecken unter schwarzen Augenbrauen,
wütend schaut er auf einen alten Kirschenbaum.
Er rennt auf ihn zu und hackt mit voller Wucht gegen dessen spröde Rinde!
Er kreischt durchschmerzt zum Himmel auf!
Er beißt sich seine gelben Zähne kaputt,
und fällt mit seinem Schmerz zum Dreck der Erde.
Unter Flüchen streift er seine Stiefel von den Füßen,
und jagt sie über den Gartenzaun!
Den Himmel im Blick, klettert er nun die Äste bis zur Krone rauf.
Von dort aus läßt er sich in Richtung Erde baumeln.
Sein Kopf schwillt ihm noch röterrot,
und als er stirbt, platzen ihm die Augen.
René Seim: